ANDREAS KÜHNE
ZU DEN ROTEN BILDERN VON MANFRED MAYERLE
2006

 

 

Wenn der italienische Maler und Theoretiker Cennino Cennini in seinem um 1400 in Padua entstandenen »trattato della Pittura« schreibt, daß die Malerei einerseits in der »Wissenschaft ihr Fundament habe und anderer seits auch aus Handarbeit bestehe«, berührt er ein grundlegendes Dilemma der europäischen nachmittelalterlichen Kunst. Wissenschaft wird hier als viel umfassendere Form der Weltaneignung und des Weltverständnisses betrachtet als unsere moderne Naturwissenschaft, aber vielleicht gerade deshalb »benötigt die Kunst, die man Malerei nennt, viel Phantasie bei der Ausführung mit der Hand, um nie gesehene Dinge zu erfinden und sie als wirklich existierend darzustellen«.

 

In der Moderne ist das Problem ebenso virulent, wie im italienischen Quattrocento, nur daß an die Stelle der darzustellenden »Dinge« die Elemente der Malerei selbst getreten sind: die Farbe und die Linie. Phantasie und Schöpferkraft bedarf der Künstler im gleichen Maße wie zu Cenninis Zeiten, um seiner Form der Weltaneignung Gestalt zu verleihen.

 

Wenn der amerikanische Maler Kenneth Noland fast 600 Jahre nach Cennini behauptet, daß es wichtig für die Malerei sei, »das Mittel zu finden, um die Farbe auszudrücken, ohne sie zu vernichten, und zwar in der Art, daß sie – unabhängig von den suprarealistischen, kubistischen oder strukturellen Systemen – ihren Wert behält«, ergänzt er Cenninis theoretische Basis um eine sich immer wieder aufs Neue stellende Aufgabe der gegenstandslosen Kunst.

 

Die roten, zum Teil mehrteiligen Leinwände Manfred Mayerles erscheinen zunächst monochrom. So flächig sie im ersten Augenblick wirken, so sehr entwickeln sie, hat man sich erst einmal auf sie eingelassen, einen Sog in die Tiefe eines eigentlich nicht vorhandenen, zumindest nicht sichtbaren Raumes. Rote Farbwolken, -täler, -hügel und -ebenen changieren über das ganze Spektrum roter Farbe hinweg – von der uneingeschränkten Expression bis zur ruhigen Meditation. Hier schwingen die Farbflächen aus, dort verdichten sie sich zu festeren Inseln. Einige Rottöne wirken so intensiv, als ob sie den Zustand des Schwebens hervorrufen würden. Der Betrachter wird von einem Farbstrom erfaßt, dem er sich abwechselnd entziehen und hingeben möchte.

 

Die Suche nach der Farbe als Energiefeld, nach der Linie als einem Aus druck existentieller Seinsbehauptung durchzieht wie ein Leitmotiv das gesamte Werk Manfred Mayerles. Fast unweigerlich evoziert diese Such wanderung die heute noch immer problematische Frage nach der »Schönheit« eines Werks der Malerei. »Nichts ist bedingter, sagen wir beschränkter, als unser Gefühl des Schönen«, mahnt uns Friedrich Nietzsche in den »Streifzügen eines Unzeitgemäßen«. Umgeben von den »Roten Bildern« läßt sich ihre Schönheit geradezu körperlich empfinden. Schön empfinden wir sie, weil sie intensiv sind und, weil sie das Maß nicht verlieren in der verschwenderischen Aus breitung ihrer Möglichkeiten.

 

Anders als bei den russischen Revolutionären und niederländischen Kon struktivisten, die durch ihre geometrische Kunst nicht nur eine schönere, sondern auch eine bessere Welt schaffen wollten, ist dem Werk Manfred Mayerles alles Doktrinäre, Sendungsbewußte und Utopische fremd. Uto pisch ist es allenfalls in dem Sinne, daß es neue Form- und Farb - zu sammenhänge antizipiert, die wir so bisher nicht gesehen haben. Der zielgerichtete Blick, der nach Inhalten sucht, die sich in Worte fassen lassen, der es gewohnt ist, Werke der Kunst sogleich einzuordnen und zu bewerten, hat es schwer mit diesen Bildern.

 

Paradoxerweise ist das Werk Manfred Mayerles immer individueller geworden, je weiter es sich von Figur, Gegenstand und Erzählung entfernt hat. Angesichts seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Farbe Rot wird die Überzeugung des Künstlers verständlich, daß gerade die Befreiung vom Gegenstand einen unverstellten, direkteren und letztendlich persönlicheren Blick auf die Welt ermöglicht.

 

Seit ihren frühesten Anfängen gehört die bildnerische Gestaltung und Verwandlung von Raum und Zeit zu den zentralen Fragen der abendländischen Kunst. In den Bildern von Manfred Mayerle ist das Verrinnen der Zeit gleichsam virtuell anwesend durch die Spuren, die der Malprozeß auf der Leinwand hinterläßt, wenn sich die Farbe mit dem Bildträger verbindet. Frühere Zustände und ihre Metamorphosen sind wie bei einem geologischen Aufschluß teilweise offen gelegt. Besonders an den Stößen der mehr teiligen Leinwände, dort wo ihre Kanten aufeinandertreffen, gewinnt die Zeit, die die Farbe braucht, um über die Leinwand zu laufen, körperliche Präsenz. Dort haben sich die schmalen Farbbahnen sowohl zeitlich als auch räumlich überlagert wie die Strichfolgen auf seinen seismographischen Zeichnungen. Die so entstandenen Strukturen zeugen von der unwiederbringlich vergan genen Zeit und der in ihr gewachsenen Arbeit des Malers. Doch anders, als auf dem Schirm eines Oszillographen wird hier weder ein objektiver Prozeß noch ein konstruktives Kalkül sichtbar, sondern die Glyphen einer leidenschaftlichen künstlerischen Arbeit. Dem länger auf den Leinwänden ruhenden Blick enthüllen sich Unregelmäßigkeiten und Störungen, aus denen Spannung erwächst und künstlerische Eigenart. Aus dem paradoxen Zustand fließender Ruhe entsteht bildnerische Poesie. Eine Poesie, die das Werk abdichtet gegen die empirische Realität. Die »Roten Bilder« von Manfred Mayerle sprechen den Betrachter direkt und körperlich an und wollen ihn gefangen nehmen. Sie vermitteln zwischen zwei Polen – zwischen Vergangenheit und Zukunft.